Laib ist Leib

Deutschland ist Brotland. Nirgendwo sonst sind Vielfalt und Frische so hoch. Unser täglich Brot ist allerdings mehr als ein gewöhnliches Lebensmittel. Es ist auch eine moralische Instanz. Doch das scheinen wir allmählich zu vergessen.

Einfallsreich sind sie ja, die Amerikaner. Eine der neuesten Errungenschaften in den USA ist der „Celebration Cup“, eine Art Abendmahl to go. In der kleinen Plastikpackung, die leicht mit einer Portion Kaffeesahne verwechselt werden könnte, finden Gläubige den Leib Christi in Hostienform samt kleinem Schlückchen Wein oder Saft. Die dazugehörige Botschaft steht praktischerweise auf dem bunt verzierten Abziehdeckel: „Das ist mein Leib, der für euch gebrochen wurde. Nehmt und esst: Tut dies zu meinem Gedächtnis.“ Wüsste man nicht um den Ursprung des Spruchs, man könnte ihn glatt für eine wohlformulierte Werbebotschaft halten.

Wenn man es mit dem Schweizer Schutzpatron Nikolaus von Flüe hält, dann ist in jedem Brot die allmächtige Gnade Gottes verborgen. Da kommt es auf die Verpackung nicht an. Andererseits: Wenn es um das Thema Brot geht, reagieren viele Menschen bei einem ehrlosen oder verschwenderischen Umgang besonders sensibel. Es gibt in unserer Sprache sogar ein Wort dafür: Brotfrevel. Jenen begingen etwa auch die Burgherren in der Sage von Stolzenburg, weil sie hart gebackenes Brot zum Kegeln verwendeten. Dafür wurden sie vom Herrgott mitsamt ihrer Burg versenkt.

Mit Brot spielt man nicht!

Mit Essen spielt man nicht – mit Brot schon gar nicht. Es gilt in weiten Teilen der Welt als das wichtigste Grundnahrungsmittel überhaupt. Wenn es fehlte, folgten Hungersnöte und Aufstände. In einigen Regionen und Religionen wird Brot gottgleich verehrt. Auch in unserer eigenen, christlichen Kultur, wo es gerade jetzt zu Ostern eine besondere Symbolkraft besitzt: Es steht in Neuen Testament für das letzte Abendmahl von Jesus mit seinen Jüngern und damit für die Verwandlung des Leibes Christi als Synonym für das ewige Leben.

Der Leib Christi für unterwegs ­– ist das jetzt Blasphemie? Schwester Johanna muss schmunzeln. „So sind die Amerikaner halt“, sagt die Benediktinerin gelassen. Natürlich kommt ein solches Geschäftsmodell für die Hostienbäckerei, die die Nonne leitet, nicht infrage. Doch auch in den altehrwürdigen Klostergemäuern der Abtei St. Scholastika auf Burg Dinklage macht man sich Gedanken über neue Vertriebswege. Erst vor Kurzem wurde die Internetpräsenz mit professionellen Fotos und einem neuen Layout herausgeputzt. „Die allermeisten Neukunden kommen inzwischen über das Netz“, erklärt die Schwester. Da müsse man sich eben anpassen.

Deutlich altmodischer geht es da noch in der Backstube des Klosters zu. Mit einem ohrenbetäubenden Zischen presst der 40 Jahre alte Vollautomat den künftigen Leib Christi zunächst zu einer viereckigen Platte. Mit schnellen Handgriffen entfernt Schwester Johanna den überschüssigen Oblatenteig an den Rändern und legt ihn beiseite. Im Zehnsekundentakt zischt es wieder und wieder. Pro Backtag werden so 75 Kilogramm Mehl und 105 Liter Wasser verarbeitet. Mehr Zutaten braucht es nicht. Danach kommen die Platten über Nacht in einen feuchten Raum, damit sie nicht zerbröseln, wenn anschließend aus ihnen die runden Hostien herausgestanzt werden. 70.000 Stück produzieren die Backstubenleiterin und ihre festangestellte Helferin pro Backtag. Im Schnitt werden in Dinklage wöchentlich 120.000 Hostien gefertigt.

Hostien vom Discounter

Verkauft werden sie als helle oder dunkle Oblaten und in verschiedenen Größen. Mittlerweile gibt es sogar glutenfreie Hostien. Die Symbolkraft des Brots kennt keine Konfessionsgrenzen. Zu den Kunden der Abtei gehören Katholiken, Protestanten, Altkatholiken oder auch Krankenhausseelsorger. Doch es sind deutlich weniger geworden in den vergangenen Jahren. Den Mitgliederschwund der Kirchen merke man auch in der Hostienbäckerei, erzählt Schwester Johanna. Dazu kommen Billiganbieter aus dem In- und Ausland.

In Dinklage wird deshalb mittlerweile zwanzig Prozent weniger hergestellt als noch vor fünf Jahren. Doch die Situation hat sich zuletzt etwas stabilisiert, gerade in Bezug auf außerkirchliche Produzenten. Viele Gemeinden bevorzugen wieder Ware aus altherkömmlichen Traditionsstätten. Bei Brot gebe es eben Pietätsgrenzen, sagt die Benediktinerin. „Es ist nicht irgendein Produkt, es ist ein würdiges Produkt.“ Produziert wird in der Abtei ausschließlich bedarfsgerecht. Das ist zum einen wirtschaftlich, weil es die Betriebskosten senkt. Zum anderen will man im Kloster mit aller Kraft vermeiden, dass ein Überschuss des so wertvollen Guts am Ende weggeschmissen werden muss.

 500.000 Tonnen landen im Müll

Diesen würdevollen Umgang lassen viele weltliche Bäcker längst vermissen. Häufig wird inzwischen billigend in Kauf genommen, dass unser täglich Brot in der Tonne landet. Die Regale müssen schließlich voll, die Waren frisch sein. Und das am besten bis kurz vor Ladenschluss. So wollen es die Kunden, sagen die Bäcker. Wenn das Lieblingsbrot am Abend nicht mehr da ist, dann gingen sie beim nächsten Einkauf einfach woanders hin. Gerade bei Verkaufsstellen in Supermärkten sind volle Regale bis in den späten Abend hinein sogar vertraglich geregelt. Zeitdruck, Preisdruck, Erwartungsdruck: Für viele Handwerksbetriebe geht es um die Existenz. Die Folgen sind erschreckend. 500.000 Tonnen Brot landen jährlich in Deutschland auf dem Müll. Das würde reichen, um ganz Niedersachsen im gleichen Zeitraum zu versorgen. Bei einem solchen Brotfrevel würde wohl selbst den Herren aus der Stolzenburg-Sage die Spucke wegbleiben.

Die Überproduktion hat für die Bäckerschaft auch wirtschaftliche Folgen. In einer gerade vorgestellten Studie der Fachhochschule Münster haben Wissenschaftler errechnet, dass einem Betrieb durch liegengebliebene Ware im Schnitt 15.700 Euro entgehen – pro Woche. Das entspricht 2,7 Tonnen Backwaren, die bei Tafeln, als Tierfutter oder letztlich im Müll enden. „Dass Lebensmittel bei uns verschwendet werden, ist angesichts der Not andernorts nicht hinnehmbar“, beklagt der Leiter der Studie, Prof. Guido Ritter. Mit seinem Forschungsteam hat er für Bäckereien deshalb Empfehlungen aufgestellt, wie hohe Überschüsse künftig verhindert werden könnten. Besonders sinnvoll sei es etwa, die Bestellprozesse zwischen Filiale und Backstube zu optimieren, so die Forscher. „Wichtig ist aber auch, die Mitarbeiter in den Filialen stärker einzubeziehen und sie im Umgang mit dem Kunden zu schulen“, sagt Ritter. Denn diese müssten am Ende erklären können, warum der Käufer sein Lieblingsbrot eben nicht immer bis Ladenschluss bekommen könne.

Brot verbrennen – darf man das?

Klar ist: Wir Verbraucher haben mit unseren Ansprüchen einen entscheidenden Teil zu dieser Entwicklung beigetragen. Nur, wie konnte es überhaupt soweit kommen, dass wir unser Brot, das unser über Jahrtausende hinweg ernährt hat, mit derartiger Verschwendung strafen? Ein Erkläransatz könnte sein: Wohlmöglich haben wir es lange Zeit einfach nicht mitbekommen. Oder nicht mitbekommen wollen. „Aufklärung ist sehr wichtig“, sagt dazu Roland Schüren. Deshalb legt der Bäcker aus dem rheinländischen Hilden auch großen Wert auf die Kommunikation mit seinen Kunden. Nur wenn über ein Problem gesprochen wird, wird es auch zum Thema.

Schüren selbst geht in seiner Bäckerei mit gutem Beispiel voran. Während viele Kollegen eine Retourenquote von 20 Prozent beklagen, liegt seine bei unter acht Prozent. Die in den 18 Filialen im Großraum Düsseldorf nicht verkauften Backwaren werden am Folgetag zunächst günstiger angeboten, zu Paniermehl verarbeitet und an Tafeln weitergeben. Was am Ende noch übrig bleibt, landet nicht in der Tonne, sondern im hauseigenen Biomasse-Heizkessel. Mit der Energie werden unter anderem die Öfen der Backstube betrieben. Diese Idee brachte Schüren im Jahr 2010 den internationalen Nachhaltigkeitspreis „Ecocare“ ein , aber auch jede Menge Kritik.

Brot verbrennen – darf man das? „Wir verbrennen es nicht, wir heizen damit “, betont Schüren. Doch er wirkt dabei genervt. Zu oft musste er in den vergangenen Jahren dazu schon Stellung beziehen. Die Frage nach dem Umgang mit Brot ist eben auch zu Zeiten des Massenkonsums zumindest theoretisch noch immer eine moralische. Die Diskussion um seinen Weg habe aber auch etwas Gutes gebracht, erzählt der Bäcker. „Es hat viele unserer Kunden für das Thema sensibilisiert.“ Ohnehin habe sich in letzter Zeit einiges getan, sagt Schüren. Das gelte sowohl für die Branche, als auch für die Kundschaft. Das Thema Brotverschwendung – es ist wieder ein eines.

In gewisser Weise sind wir das unseren Vorfahren auch schuldig. Schließlich hat sich die Menschheit Jahrtausende lang redlich Mühe geben, um unser Brot so zu kultivieren, wie wir es heute kennen. Bereits vor 30.000 Jahren – das belegen Funde aus Osteuropa – wurden Pflanzen zu Mehl verarbeitet. Vor 10.000 Jahren begann dann der organisierte Anbau von Getreide. Zunächst wurde es mit Wasser zu Brei gemischt, später auf heißen Steinen zu Fladen ausgebacken. So wurde es haltbar und transportabel. Mit den ersten Backöfen wurde schließlich rundes Brot hergestellt, da die Hitze nun von allen Seiten an den Teig gelangte. Die alten Ägypter, die seinerzeit von anderen Völkern auch als „Brotesser“ bezeichnet wurden, waren schließlich die ersten, die Hefe kultivierten und dem Teig hinzufügten. Vor 5.000 Jahren entstanden so gesäuerte Brote. Heutzutage gilt vor allem Deutschland als Brotnation. Nirgendwo sonst auf der Welt werden so viele unterschiedliche Produkte hergestellt wie hier.

Leckereien aus altem Brot

Tainá Guedes, in Brasilien geborene Halbjapanerin, weiß diese Vielfalt zu schätzen. „Brot wird in Deutschland immer gegessen – morgens, mittags, abends“, sagt sie fasziniert. Das kannte die Künstlerin und Köchin vor ihrem Umzug nach Berlin so nicht. „Eine Mahlzeit heißt ja sogar Abendbrot“. Umso schlimmer war es für Guedes, als sie nach und nach die riesige Verschwendung in ihrer Wahlheimat realisierte. Nach einer Begegnung mit Demeter-Bäcker Joachim Weckmann begann die studierte internationale Köchin, über den Wert und die Bedeutung von Brot in der Gesellschaft nachzudenken – und entschied sich, Rezepte, in denen altes Brot verwertet wird, zu sammeln und auszuprobieren.

Die Ergebnisse schrieb die 37-jährige Food-Artistin in ihrem Buch „Koch mit Brot“ nieder und zeigte: Bevor es steinahart zu Hause im Müll landet, kann man es mit einfachsten Mitteln ja auch für einen leckeren Cesar-Salat, eine klassische Brotsuppe oder sogar für ein süß-zartes Puddingdessert verwenden. „Wenn das Brot nicht schimmelt, hat man immer eine Möglichkeit, es weiter zu benutzen“, sagt Guedes. Es ist ein Wissen, das in der älteren Kriegs- und Nachkriegsgeneration eigentlich vorhanden, aber in Zeiten voller Supermarktsregale und immer verfügbarer Frischeprodukte wohl bei vielen in Vergessenheit geraten ist. Das Bewusstsein sei aber da, weiß auch Guedes aus vielen Gesprächen. „Man muss es nur wecken.“

Stephan Fuhrer (2015) / © Foto: fotolia.com/neftali