Gutes altes Buch

Kochbücher sind auch nicht mehr das, was sie mal waren – im positiven Sinne. Der digitalen Konkurrenz aus dem Internet sehen die Verlage jedenfalls gelassen entgegen. 

Da war dieses Problem. Nichts Gravierendes, aber doch irgendwie nervig: Wo war jetzt dieses verflixte Rezept noch mal? Hilflos stand John Grøtting vor seinem Kochbuchregal. Die rund 100 Titel waren gut sortiert, und doch: Ausgerechnet das Gericht, welches ihm jetzt gerade in den Sinn gekommen war, konnte er nicht finden. Dafür kam ihm eine Idee: Wenn er seine Kochbücher in einer digitalen Bibliothek unterbringen und miteinander verknüpfen könnte, dann ließen sich Rezepte künftig schnell und einfach über eine Suchfunktion finden. Und dann könnte man noch Eieruhren und Videos hinzufügen und die Rezeptmengen auf die Anzahl der zu bekochenden Personen umrechnen lassen. So viele Möglichkeiten – schöne, neue Welt.

Archiv mit allem Zipp und Zapp

Gedacht, getan. Grøtting kocht gerne. Es ist für ihn ein Ausgleich zu seinem hektischen Berufsalltag, zunächst in der Internetbranche in den USA und später in der Werbewelt in Deutschland. Warum nicht das berufliche Know-how mit der privaten Leidenschaft verknüpfen? Seine App-Idee „Caramalized“, ein digitales Kochbucharchiv mit allem Zipp und Zapp, stellt er schließlich als Dummy auf einer Fachmesse in Paris vor. Das Interesse ist groß. Das macht Mut. Kurz darauf bringt der gebürtige Amerikaner sein digitales Kochbucharchiv in die App-Stores. Jetzt muss er sich auf einem riesigen Markt durchsetzen – gegen andere digitale Visionäre, aber vor allem auch gegen den klassischen Buchmarkt. Denn der hat zuletzt mächtig an Fahrt aufgenommen.

In den deutschen Kochbuchverlagen sieht man der Konkurrenz aus dem Internet entsprechend gelassen entgegen. Warum aufregen? Schließlich boomt der Verkauf von gedruckten Kochbüchern. Zur Frankfurter Buchmesse im Herbst kam etwa pünktlich das neue Werk von Tim Mälzer auf den Markt – in „Heimat“ interpretiert Deutschlands wohl bekanntester TV-Koch klassische Gerichte neu. Edel sieht es aus, mit Leineneinband und Goldfolienprägung. Die Marketingmaschinerie lief sofort auf Hochtouren. 2,5 Millionen Bücher hat der 43-jährige Kochbuchautor bisher verkauft. Mit seinem neuen Werk sollen viele weitere dazukommen. Mälzer ist ein Zugpferd der Branche.

An den Messeständen war die Laune bestens. Um satte 16,6 Prozent ist der Gesamtumsatz allein im Jahr 2013 angestiegen. Und auch im abglaufenden Geschäftsjahr sehen die Zahlen wieder gut aus, wie der Börsenverein des Deutschen Buchhandels mitteilt. E-Book- und App-Verkäufe machen dabei nur einen geringen Teil aus, weltweit liegt er gerade einmal bei fünf Prozent, wie Experten schätzen. Für App-Entwickler wie Grøtting besteht also großes Wachstumspotenzial – vorausgesetzt, er hat mit seiner Idee den richtigen Riecher. Doch gute Ideen gibt es auch im klassischen Buchmarkt. Denn es sind nicht mehr nur die omnipräsenten TV-Köche à la Tim Mälzer, Alfons Schuhbeck oder Johann Lafer, die seit Jahren ihr kulinarisches Wissen mit hohen Einschaltquoten in die deutschen Wohnzimmer tragen und sich ihre Bekanntheit durch den Verkauf ihrer Rezeptsammlungen vergolden lassen.

Der neue Verkaufstrend trägt auch einer aktuellen gesellschaftlichen Entwicklung Rechnung: der neuen Lust am fleischlosen Genuss. „Vegetarisch durchs Studium“, „Peace Food – Vegano Italiano“, „Vegan für Faule“, „Vegetarisch für Babys“, „Vegan X-Mas“ – es gibt kaum ein Küchenthema, das die Neuerscheinungen in diesem Bereich nicht abdecken.

Den Trends folgen Gegentrends

Allein im ersten Quartal 2014 hat die sogenannte gesunde, schlanke Küche innerhalb der Warengruppe um 33 Prozent im Vergleich zum Vorjahr zugelegt. Für die Herausgeber ist das steigende Interesse an vegetarischer und veganer Kost ein Glücksfall. Für eine alltägliche fleischlose Küche brauche man nun mal Kochbücher, vielen fehle ja die Expertise, sagt Stephanie Wenzel, Verlagsleiterin für den Bereich Kochen und Verwöhnen beim Marktführer Gräfe und Unzer (GU). Doch der Kochbuchmarkt ist mittlerweile viel breiter aufgestellt – „den Trends folgen Gegentrends“, sagt Wenzel.

Bei GU, aber auch bei vielen anderen Verlagen, hat deshalb die urbane Abgrenzung zur landlustigen Gemüseküche ihren Platz gefunden: Fast Food, selbst gemacht aus besten Zutaten. Dabei werden klassische Burger oder Fritten derzeit ebenso zum Thema gemacht wie internationales Streetfood aus Mexiko oder Asien. Beim Matthaes- und beim Christian-Verlag geht man indes auf direkten Konfrontationskurs zur vegetarischen Welle: Schlichtweg „Fleisch“ sind ihre jeweiligen neuen Bücher betitelt. Auch Backbücher erfreuen sich großer Beliebtheit. Dabei stehen vor allem kleine, bunte Teiglinge wie Muffins oder Cupcakes im Fokus. Noch so eine gesellschaftliche Entwicklung: „Wenn man heute alleine oder zu zweit in einem Haushalt lebt, dann backt man eben keinen großen Blechkuchen mehr“, sagt Wenzel.

Eines machen die aktuellen Trends deutlich: Kochbücher sind nicht nur reine Ratgeber, sie sind immer auch ein Ausdruck des aktuellen Zeitgeschehens. Dass die Verlage dies erkannt und zu ihrem Geschäftsmodell gemacht haben, ist wohl ein Grund für den aktuellen Erfolg der Branche. Waren in den siebziger und achtziger Jahren viele Veröffentlichungen noch bloße Ansammlungen von Rezepten, so sind ihre modernen Nachfolger deutlich vielseitiger. Mit der Verbreitung des Internets wurde es ernst für die Verlage. Auf Portalen wie chefkoch.de konnten Normalbürger plötzlich Zigtausende Rezepte finden oder selbst einstellen. „Noch Ende der neunziger Jahre sahen wir darin eine echte Konkurrenz, mittlerweile aber nicht mehr“, sagt Wenzel selbstbewusst. Die Verlagshäuser reagierten, brachten zielgruppengerechte Produkte auf den Markt, verbesserten die Optik, legten Wert auf Expertise – und hatten Erfolg.

„Gute Kochbücher erzählen heute auf ganz vielen Ebenen eine Geschichte. Das kann eine kulturelle, aber auch eine persönliche sein“, sagt Food-Bloggerin Katharina Höhnk. Eine Gliederung nach Saison anstelle der Menüfolge, hochwertige Fotografien und eine besondere Themenauswahl: „Die neuen Bücher sind längst nicht mehr thematisch durchdekliniert und häufig auch sehr emotional“, meint die Berlinerin, die mit Kollegen viele Neuerscheinungen zu Hause nachkocht und auf ihrer Internetseite valentinas-kochbuch.de beurteilt. Ihr Fazit aus langjähriger Beobachtung: „Kochbücher werden immer besser. Und sie finden auch vielmehr Beachtung als noch vor zehn, zwanzig Jahren.“

Zur Menschheitsgeschichte gehören sie ohnehin schon lange. Das älteste bekannte Kochbuch, die indische Sammlung „Vasavarajeyam“, wurde in Sanskrit, der altindischen Sprache, verfasst und dürfte etwa 3500 Jahre alt sein. Den wohl größten Einfluss auf die Literaturgeschichte europäischer Kochbücher hatte allerdings das römische Kochbuch „De re coquinaria“, dessen Autor der Feinschmecker Caelius Apicius gewesen sein soll. Tatsächlich geht die Forschung aber inzwischen davon aus, dass die Sammlung im Laufe der Zeit von vielen Autoren und Köchen ergänzt und weitergeben wurde. Die römischen Schriften haben die nachfolgenden Bücher bis weit ins Mittelalter hinein beeinflusst. Das älteste bekannte deutsche Werk ist hingegen wohl eine rein zufällige Ansammlung von Kochanleitungen. Der Titel des um 1350 entstandenen Würzburger Kochbuchs ist einfach und trefflich: „daz buch von guter spîse“. Es befindet sich im Anhang eines Tierarzneibuchs.

Das Liebchen hinterm Herd

Was heute kaum noch vorstellbar ist: Temperatur- und Mengenangaben gab es in Rezepten lange Zeit nicht. Die Bücher richteten sich an Köche, die die Grundlagen ohnehin beherrschten. Mit Beginn des 20. Jahrhundert wurden dann normale Haushalte als Zielgruppe ausgemacht, der Markt kommerzialisierte sich. 1911 erschien im Kaiserreich das „Dr. Oetker Schulkochbuch“, 1955 in den Nachkriegsjahren „Ich helf dir kochen“. Beide Kochbücher werden noch heute in der x-ten Auflage verkauft und gelten als die erfolgreichsten im Land.

Ausgerichtet waren die Rezeptsammlungen meist nur auf Frauen, die nach Ansicht einiger Autoren wohl auch zum Kochen animiert werden mussten. Das zeigt etwa der Auszug eines Vorwortgedichts aus dem seinerzeit weit verbreiteten „Kochbuch für drei und mehr Personen“: „Selbst wenn der Mann verstimmt, beklommen / Von seiner Arbeit heimgekommen / So wird ihm Aug’ und Herz schon heller / Sieht er vor sich den Suppenteller / Voll kräft‘ger Brüh‘, die keiner gleicht / Und die sein Liebchen stolz ihm reicht.“ – „Fleisch“, „Grillen“, „Messer“: Allein die Titel neuerer Kochbücher machen deutlich, dass inzwischen auch genügend Männer mit Leidenschaft am Herd stehen.

So wie John Grøtting, der mit seinen beiden Partnern nun den nächsten Meilenstein in der Historie der Kochbücher setzen möchte. Und er glaubt an den Erfolg seiner Idee: „Das Digitale wird sich durchsetzen. Dass ich eines Tages einmal meine ganzen Musik-CDs in den Keller packen würde, hätte ich vor einigen Jahren ja auch nicht gedacht “, sagt er. Alleine die Menge der angebotenen Rezepte und Bücher ist in „Caramalized“ noch überschaubar. Erst rund 20 Buchtitel und die darin befindlichen einzelnen Rezepte, aufbereitet mit jeder Menge Zubehör, können als sogenannte In-App-Käufe erworben werden. Das Programm selbst ist kostenlos. „Das Problem ist die Software, das Bearbeiten der Bücher dauert im Moment noch zu lange“, sagt der App-Entwickler. Man arbeite aber daran.

Im Portfolio hat der Familienvater mittlerweile auch Bücher von Tim Mälzer. Der Hamburger Koch, lange Zeit kritisch gegenüber digitalen Kooperationen, hatte sich von dem 49-Jährigen und dessen Ideen überzeugen lassen. Das erste Zugpferd hätte Grøtting also schon im Stall.

Stephan Fuhrer / Foto: © stokkete/fotolia.com

Bei den World Cookbook Awards werden alljährlich die besten Kochbücher der Welt prämiert. Ein Gespräch mit Edouard Cointreau, dem Erfinder des Wettbewerbs, über besondere Werke und die Leidenschaft hinter den Rezepten.