Ein Eis, das nach Popcorn schmeckt, und ein Reisfeld vorm Küchenfenster: Im Schweizer Tessin kommt wieder das auf den Tisch, was die Region hergibt.
Das Gelati schmeckt nach Popcorn. Stolz bereitet Ilario Gabani das Eis, das unweigerlich an einen Kinobesuch erinnert, für seine Gäste in kleinen Pappbechern zu. Die wichtigste Zutat heißt Farina Bona und wird am Ende drübergestreut. „Das Pulver ist ein Mehl, das zu zwei Dritteln aus Maiskörnern und zu einem aus geröstetem Mais besteht“, erklärt der Schweizer. Ganz so, wie es in Vergeletto, diesem winzigen Ort im engen Tessiner Onsernone-Tal, lange Zeit traditionell hergestellt wurde.
Ilario Gabani ist Grundschullehrer. Und seit einigen Jahren sei er nun auch Müller, sagt der 55-Jährige, während er durch sein Dorf führt. Es könnte so still in diesem bezaubernden 60-Einwohner-Örtchen nahe der italienischen Grenze sein, wäre da nicht dieser laute Wasserfall, der zwischen den alten Steinhäusern mit Karacho ins Tal stürzt. Die Kraft des Wassers ist das Glück des Müllers: Es treibt die schweren Mühlräder an, die Gabani in den vergangenen Jahren liebevoll restauriert hat. Seit sie wieder laufen, gibt es die beinahe vergessene Tessiner Spezialität Farina Bona wieder – Jahrzehnte nachdem die Einwohner des Tals in Scharen aus den einsamen, ärmlichen Bergdörfern in die großen Städte des Kantons gezogen sind. Ihr Maismehl brauchten sie dort nicht mehr.
Zwischen Palmen und Gletscher
Wie bei Gabani, so hat in den vergangenen Jahren in der gesamten Region ein Umdenken stattgefunden. Traditionelle Produkte – wie zum Beispiel auch der aromatische Zincarlin-Käse, der mit seinem kräftigen und doch feinen Geschmack jedem Risottogericht eine eigene Note verleiht – wurden neu entdeckt. Die Tessiner haben ihre Vergangenheit wiederbelebt. Für Touristen, die auf ihren Reisen ein Augenmerk auf lokale kulinarische Schätze legen, gibt es einiges zu entdecken.
Eine einstündige, kurvige Autofahrt später ist es mit der Einsamkeit der engen, felsigen Seitentäler vorbei. Die schmale Straße mündet ins Maggia- und schließlich ins breite Magadino-Tal. Hier rauscht der Transit- und Urlaubsverkehr auf der Autobahn in Nord-Süd-Richtung gen Zürich oder Mailand. In der weiten Ebene arbeiten braun gebrannte Bauern in ertragreichen Obst- und Gemüseplantagen. An den Seitenhängen wachsen Merlottrauben in der heißen Sonne.
„Garten des Tessins“ nennen die Südschweizer ihr Magadino-Tal, an dessen südlichem Ende der bezaubernde Lago Maggiore und die Grenze zu Italien warten. Hier hat der Tourismus in den vergangenen Jahrzehnten den Menschen zu Wohlstand verholfen. Am Seeufer von Ascona ragen Palmen in die Höhe und verdecken für einen Moment den Blick auf die Gletscher der umliegenden Alpengipfel. Der Himmel ist tiefblau.
Berg und Tal, Palmen und Gletscher, Einsamkeit und Dolce Vita – das Tessin ist eine Region voller Kontraste. Für die Nordschweizer ist sie die Sonnenstube der Alpenrepublik. Und wer an grauen Regentagen nach der Dunkelheit des Gotthardtunnels schließlich im lichtdurchfluteten Airolo wieder ans Tageslicht kommt, der wird von jener Leichtigkeit beseelt, die auch den Literatur-Nobelpreisträger Hermann Hesse nicht mehr losließ: Das Tessin sei „wunderbar schön, und vom Alpinen bis ganz Südlichen ist alles da“, sagte er. Und blieb.
Genießer können sich im Tessin auf eine kulinarische Reise begeben, um die Köstlichkeiten kennenzulernen, die aus diesem komplexen Zusammenspiel entstanden sind. Bei einem Gang durch die Gässchen Asconas oder Luganos, vorbei an feinen Nobelboutiquen und kleinen Cafés, kann sich wohl kaum jemand vorstellen, dass die Region noch zwei Jahrhunderte zuvor zu den ärmsten Europas zählte. Doch Not macht erfinderisch: Es entstanden leckere Gerichte aus einfachsten Zutaten, häufig mit Pasta, Polenta oder Risotto als Grundlage. Um Würste, Wein oder Käse auch in der Sommerhitze frisch zu halten, lagerten die Menschen ihre Lebensmittel in Felsenkellern, den Grotti. Mittlerweile dienen viele von ihnen als Ausflugslokal – ein rustikales Erlebnis mit oftmals köstlicher Tessiner Hausmannskost.
Wo Jogis Jungs schlemmten
Auch in der Spitzengastronomie, die in den Zentren des Kantons zahlreich vertreten ist, wird die Armeleuteküche des Tessins mittlerweile geschätzt. Eigentlich setzte Rolf Fliegauf zu Beginn seiner Kochlaufbahn auf die neuen, scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der Molekularküche. Inzwischen hat sich der 34-jährige Deutsche auf die Einfachheit der regionalen Produkte besonnen. „Wir lassen uns von allem inspirieren, was es hier gibt“, sagt Fliegauf, der seit vier Jahren mit zwei Michelin-Sternen dekoriert ist. Seine Produkte bezieht er zu einem Großteil von Biobauern oder Kräutersammlern direkt aus der Region. „Küche muss für jedermann verständlich sein“, sagt Fliegauf. Luganer Zander, Mandeln, Mais – die Zutaten der Gerichte, die auf seiner Karte stehen, sollten seine Gäste kennen.
Seit 2007 lebt und arbeitet der Schwabe in der Schweiz; im Winter in St. Moritz, in den wärmeren Monaten in Ascona. Sein Arbeitsplatz im Tessin ist die Küche des Nobelhotels Giardino. Fliegaufs Ristorante Ecco zählt zu den besten im Land. Das Hotel hat sich hierzulande vor allem während der Fußball-Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz einen Namen gemacht: Auf dem modernen Anwesen hatte sich die deutsche Fußballnationalmannschaft während des Turniers einquartiert. Für den Titel hat es bekanntlich nicht gereicht – für ein paar erholsame Stunden in luxuriösem Ambiente bei köstlichen Tessiner Spezialitäten aber bestimmt.
Risotto direkt vom Feld
Jene Köstlichkeiten gibt es auch bei Fliegaufs Kollegen Othmar Schlegl, der nur einen kurzen Fußmarsch entfernt in einem weiteren Luxushotel Asconas, dem Castello del Sole, in der Küche steht. Für die regionalen Zutaten muss Schlegl, ausgezeichnet mit einem Michelin-Stern, nur mal schnell ins Freie. Auf dem rund 150 Hektar großen Hotelgelände mit Kräutergarten, den Gemüsebeeten und einem hauseigenem Land- wirtschaftsbetrieb findet der Koch so ziemlich alles, was er benötigt – ob Hartweizengrieß für die Spaghetti, Reis für den Risotto oder den passenden Wein aus dem eigenen Weingut. „Das Klima hier ist einfach ideal“, schwärmt der Koch und präsentiert in seinem Garten stolz seine Yuzu-Sträucher – eine asiatische Zitruspflanze mit hocharomatischen Früchten.
Hoch in den Bergen bei Ilario Gabani würden diese empfindlichen Gewächse mit Sicherheit eingehen. Der für seine Farina Bona benötigte Mais ist da schon robuster. Doch auch sein Produkt findet in den Sterneküchen im Tal Verwendung, und selbst die große Schweizer Supermarktkette Migros hat das Mehl in ihren Tessiner Filialen ins Sortiment aufgenommen. Das macht den 55-Jährigen stolz. „Man kann auch Kuchen oder Suppe damit machen“, sagt Gabani und verteilt ein Faltpapier mit Rezepten, die er mit seinen Schülern und deren Eltern in einem Schulprojekt entwickelt hat. Die Zutaten und die Zubereitung sind im Grunde so einfach wie die Herstellung der Farina Bona. Womöglich liegt genau darin das Geheimnis.
Stephan Fuhrer (2015) / Alle Fotos: © Stephan Fuhrer