Island: Eisige Schönheit

Der Eyjafjallajökull hat 2010 halb Europa lahmgelegt – und Island einen nie gekannten Touristenansturm beschert. Seither sucht der kleine Inselstaat Mittel und Wege, um Gästen und Natur gleichermaßen gerecht zu werden. Eine Möglichkeit: Man lockt die Reisenden mit der Faszination des isländischen Winters.

Er ist türkisblau, aalglatt und fühlt sich eiskalt an. So kalt, wie man das von einem Gletscher auch erwarten kann. Keine Spur von der brutalten Hitze, die bei dem Vulkanausbruch noch vor fünf Jahren unter diesem urzeitlichen Eisgiganten geherrscht haben muss. Das ist jetzt also der Eyjafjallajökull, jener Gletscher, der im Jahr 2010 Flugreisende und Nachrichtensprecher in ganz Europa gleichermaßen zu Wut- und Schweißausbrüchen getrieben hat? „Ja, das ist er“, sagt Reiseführer Þorvarður Ingi Þorbjörnsson, kurz Ingi genannt, und streichelt das Eis beinahe zärtlich. Isländer und ihre Natur – das ist eine echte Liebesbeziehung.

In diesen Wintermonaten ist es allerdings alles andere als leicht, an Islands wohl bekanntestes Naturschauspiel zu gelangen. Eine geteerte Straße gibt es zu der ins Tal ragenden Gletscherzunge nicht. Und selbst die notdürftig angelegte Schotterpiste verliert sich irgendwann in der von Schnee und Eis bedeckten Ebene. Hier schoss im Februar 2010 die Flutwelle aus geschmolzenem Gletschereis in Richtung Küste, riss Felsbrocken, Geröll und ganze Straßen mit sich und formte eine neue Landschaft – und tut es noch. „Das sieht hier jede Woche anders aus“, sagt Ingi, während er seinen Superjeep, einen umgebauten Kleinbus, über rauschende Bäche und krachende Eisplatten ins Landesinnere lenkt. Obwohl er mit seinem Geländegänger mittlerweile regelmäßig Touristen durch das weite Húsadalurtal führt, muss er immer wieder neue Wege finden.

Touristen stürmen Bauernhof

Island und sein Eyjafjallajökull – das ist eine schicksalhafte Verbindung. Dabei ist der Ausbruch des Eyjafjöll, des Vulkans unter dem Gletscher, bei Weitem nicht der heftigste in der jüngeren Zeit. Der bis vor Kurzem aktive Bárðarbunga im Inselzentrum förderte zuletzt deutlich mehr Lava zutage – doch weil der Eyjafjöll unter dem Eis ausbrach, war dieser deutlich explosiver. Die folgende Aschewolke, die tagelang den Flugverkehr über weiten Teilen Europas lahmlegte, hat dem kleinen Land zu einem Zeitpunkt Aufmerksamkeit beschert, als es gerade im Begriff war, sich neu zu erfinden. Nach dem Finanzcrash 2008 und der Beinahestaatspleite suchten die Isländer einen Ausweg aus der Abhängigkeit von den Finanzmärkten – und fanden ihn unter anderem im Tourismus. Im vergangenen Jahr kamen eine Million Besucher aus dem Ausland und damit doppelt so viele als noch vor dem Ausbruch. Das sind dreimal mehr Menschen, als das Land Einwohner hat.

Manche von ihnen wollen alles ganz genau wissen. Für Gudny Valberg und Olafur Eggertsson war es mit der Ruhe im Süden der Insel jedenfalls vorbei, nachdem direkt hinter ihrem Hof der Eyjafjöll ausgebrochen war. Zuerst mussten sie vor der schwarzen Aschewolke fliehen und durften nur unter Militärschutz zurück, um die Kühe zu melken. Danach kamen die Journalisten, und dann standen immer mehr Touristen auf ihrem Hof. Dabei hatte das Ehepaar auch so genug zu tun. Zwar hatten sie Glück im Unglück, dass die Lavaströme ihr Haus verschont hatten. Doch die zum Teil meterdicken Asche- und Schlammmassen mussten nach und nach entfernt, die Strom- und Wasserversorgung wieder aufgebaut werden. Der Andrang belastete das Paar. „Wir hatten ja nicht mal genügend WC-Möglichkeiten für die ganzen Leute“, erzählt Gudny Valberg.

Kreative Ideen sind nötig

Aus der Not heraus entstand die Idee, unweit ihres Wohnhauses ein kleines Museum aufzubauen. In einem Film zeigt das Ehepaar den Besuchern nun die Geschichte ihrer Familie. Mehr als 40.000 kamen im ersten Jahr nach der Eröffnung, 2014 waren es bereits mehr als 70.000 Gäste. Mittlerweile ist aus der Eigeninitiative ein profitables Geschäft geworden. In den Regalen neben dem Kassentisch stehen kleine, auf Holzsockel geklebte Lavabrocken zum Verkauf. Links neben dem Eingang hängt ein Foto des Hofs im XXL-Format mit aufsteigender Aschewolke im Hintergrund. Olafur Eggertsson hatte es am ersten Tag des Ausbruchs geknipst und an eine Zeitungsredaktion nach Reykjavik geschickt. Von dort aus ging es um die Welt.

Keine Frage: Kreative Ideen sind hier draußen ein Schlüssel zum Erfolg. Denn während in und um Reykjavik, wo gut zwei Drittel der Gesamtbevölkerung der Insel leben, die Hotels dauerbelegt und die Restaurants voll sind, ist es in weiten Teilen des übrigen Landes menschenleer – gerade jetzt in den kälteren Monaten. Dabei finden Touristen in der Einsamkeit das, was die Insel so einmalig macht: eine atemberaubende Landschaft, geschaffen aus Feuer und Eis. Kilometerlang ziehen sich die schwarzen Lavastrände an der Südwestküste. An Felswänden und in Flussschluchten stürzen unzählige Wasserfälle hinab. Die Bekanntesten, etwa der zweistufig ins Tal krachende Gullfoss, ziehen auch jetzt bei Schnee und eisigem Wind zahlreiche Besucher an. Amerikaner zum Beispiel, die auf ihrem Flug nach Europa einen Zwischenstopp auf Island einlegen und von Reykjavik in Bussen zu den erreichbaren Hotspots der Insel gekarrt werden – im wahrsten Sinne, denn auch die aus dem Boden sprudelnden Geysire oder heiße Naturbäder wie die Blaue Lagune nahe des Flughafens Keflavik gehören zu den Höhepunkten.

Kühe im Restaurant

Doch auch abseits dieser Naturschauspiele nimmt der Fremdenverkehr zu. „Als ich jung war, kannte ich noch jedes Auto, das hier vorbeifuhr“, erzählt der 33-jährige Solvi Ararrson. Das habe sich inzwischen geändert. Die alteingesessene Familie erkannte die Chance und stellte ihr Konzept vor anderthalb Jahren komplett auf den Kopf. Seither erwartet Gäste auf dem Efstidalur-II-Hof ein Farmhotel mit Restaurantbetrieb – nah genug an Ausflugszielen wie dem Gullfoss oder dem pausenlos sprudelnden Strokkur-Geysir, und doch irgendwo im Nirgendwo. Im urgemütlichen Gastraum werden köstliche Burger und frische Eiskreme aus eigener Produktion serviert. „Alles naturbelassen“, versichert Solvi. Die Rohstofflieferanten gleich nebenan sehen bizarrerweise zu. Die Bauernfamilie hat in die Wand zwischen Restaurant und Kuhstall Fenster einsetzen lassen.

Doch sie sind nicht die einzigen, die sich den Veränderungen angepasst haben. Der ehemalige isländische Fußballprofi Hermann Hreiðarsson hat gerade in Hella mit seinem Hotel Stracta eine ganze Hotelanlage aus dem Boden gestampft. Sein Konzept: Vom einfachen Bed & Breakfast für Durchreisende bis zum Luxusappartement ist alles unter einem Dach vereint. In der Nähe von Flúðir brachte eine Bauernfamilie ein altes Naturbad, die Secret Lagoon, wieder auf Vordermann. Das abendliche Schwimmen bei fast plus 40 Grad Wasser- und minus 10 Grad Außentemperatur ist gerade im Winter ein Erlebnis – auch wenn es ein bisschen Mut braucht, den 15-Meter-Sprint von der Umkleide durchs Freie ins wärmende Nass zurückzulegen. Bei klarem Himmel und etwas Glück lassen sich beim anschließen Umherschwimmen sogar noch Polarlichter ausmachen. Mehr Naturspektakel geht kaum.

Reiseveranstalter wie Ann-Cathrin Bröcker von Island ProTravel freuen sich über so viel Eigeninitiative. Denn außerhalb Reykjaviks mangelt es nach wie vor an touristischer Infrastruktur auf der Insel. „Die ist aber nötig, um den wachenden Besucherzahlen Herr zu werden, sie besser über das Land zu verteilen und den Gästen auch Touren im Winter zu ermöglichen“, sagt die gebürtige Luxemburgerin. Das schone im Umkehrschluss auch die Natur. Auch Isländer sehen das so, schließlich genießen viele von ihnen jede freie Minute in der Landschaft, fahren mit ihren Geländegängern am Wochenende in die abgelegensten Winkel und suchen das nächste Naturschauspiel. „Als der Eyjafjöll aktiv war, bin ich wie viele andere mit Freunden hingefahren“, erzählt Superjeep-Fahrer Ingi auf dem Rückweg vom Gletscherbesuch. Während halb Europa im Verkehrschaos versank, hätten sie sich das Spektakel so oft wie möglich angeschaut – und dabei in aller Ruhe gepicknickt.

Stephan Fuhrer (2015) / Alle Fotos: © Stephan Fuhrer

 

Die größte Vulkaninsel der Welt

Auf Island lässt sich Erdgeschichte live erleben. Das Land, zwischen amerikanischer und eurasischer Kontinentalplatte gelegen, ist die größte Vulkaninsel der Welt. Alle drei bis vier Jahre brodelt es – dann bricht wieder ein Vulkan aus. 31 gelten derzeit als aktiv. Gerade hat der im menschenleeren Inselinneren gelegene Bárdarbunga nach über einem Jahr seine Aktivität vorübergehend eingestellt. Mit 1400 Milliarden Litern brachte er den größten Lavaausfluss auf der Insel seit 1784 mit sich. Das entspricht etwa der achtfachen Menge des Ausbruchs von 2010 unter dem Eyjafjallajökull, der den Flugverkehr in weiten Teilen Europas lahngelegt hatte. Schuld daran war eine Aschewolke, die aus dem Ausbruch direkt unter dem Gletscher resultierte. Das war beim Bárdarbunga bislang glücklicherweise noch nicht der Fall, doch Entwarnung können die Vulkanologen noch nicht geben. Der nächste Ausbruch kommt bestimmt. sfu