Warum soll schnelles Essen schlechtes Essen sein? Rund um den Globus liegt Street Food im Trend. In Deutschland macht Berlin den Vorreiter.
Was war jetzt Pastrami noch gleich? Der Verkäufer holt tief Luft und rattert eine lange Liste von Zutaten und Verfahren ab. Was hängen bleibt, sind Stichworte: Rindfleisch, Gewürze, Pökellake, Räucherverfahren, Marinade, Niedrigtemperatur, ganz viel Geduld. Wochenlang. Da liegt es nun auf dem Sandwich, das Pastrami, garniert mit Kraut und Gurke, und sieht zum Anbeißen aus. Wäre das Fleisch nicht rötlich, man könnte es glatt für einen wohlgeratenen Döner halten – doch so was Gewöhnliches sucht man hier in der Markthalle Neun vergeblich.
Keine Frage, das Pastrami-Sandwich am Stand von Mogg & Melzer ist ein Hingucker. Doch es ist nur einer von vielen in der Kreuzberger Halle an diesem Donnerstag. Es ist Street Food Thursday, ein wöchentliches Schlemmerereignis, das für viele Berlin-Besucher zum Pflichttermin geworden ist. In den neuesten Stadtführern steht er schon. Dabei gibt es den Tag gerade mal seit zwei Jahren.
Street Food, das klingt nach Thailand-Urlaub, nach brodelnden Töpfen und dampfenden Woks am Straßenrand. Doch der Name führt in die Irre: Street Food in europäischen Großstädten, das ist eine ziemlich feine Sache. Eine Frage von Einstellung und Stil.
Frische und regionale Zutaten
Lecker, schnell, gesund – das ist das Erfolgsrezept an den neuen Imbissbuden und Marktständen. Hier gibt es Mahlzeiten aus frischen und oftmals regionalen Bioprodukten – hochwertiges Fast Food. Das Wort, fast schon Synonym für den Lebensstil einer immer dicker werdenden Gesellschaft, nimmt in dem historischen Kreuzberger Marktgebäude aber niemand gerne in den Mund. Street Food, das ist etwas ganz anderes als die fettige Frittenbude an der Ecke, und dieses Andere trifft offenbar einen Nerv: In Zeiten, in denen Essen zwischen Büroalltag, Yogakurs und Konzertbesuch zur schnellen Neben- und ein gesunder Lifestyle zur Hauptsache geworden ist, sind hochwertige Alternativen zu Bratwurst, Döner & Co. gefragter denn je. Zumal, wenn sie wie hier in Berlin bezahlbar sind. Mit 10 Euro für eine Mahlzeit mit Getränk kommen Besucher des Street-Food-Tages locker aus.
Am Stand von „Glut & Späne“ duftet es verführerisch nach geräuchertem Fisch. Sandra Wickert zupft Salatblätter zurecht und rührt ein letztes Mal durch die selbst gemachten Soßen. Gleich, um 17 Uhr, wird der kulinarische Reigen mit Glockengeläut eröffnet. Der Lachs im Ofen ist fertig, das frisch gebackene Sandwichbrot liegt bereit. Die Zutaten ergeben eine „Hot Smoked Salmon Roll“, den Verkaufsschlager des Standes. In herkömmlichen Kategorien könnte man auch von einem Räucherlachsbrötchen sprechen. Aber in Nachbarschaft zu jüdisch-amerikanischem Pastrami, nigerianischem Fufu oder spanischen Tapas muss das Angebot eben auch ein bisschen nach großer, weiter Welt klingen.
Schlendernd durch die Speisekarten der Welt
Von weit her kommt augenscheinlich auch der erste Kunde des Tages. „It’s fantastic!“, ruft die Besucherin mit asiatischem Äußeren, viel zu großem Rucksack auf den Schultern und Fischbrötchen in der Hand. Sie zieht schlemmend weiter durch die Gänge, bleibt mal hier, mal da stehen und guckt den Standbetreibern beim Zubereiten zu. Die ersten Minuten des Street Food Thursday gilt es zu nutzen. Die Halle füllt sich jetzt schnell.
Sandra Wickert schaut der jungen Frau hinterher und muss grinsen. Feedback, direkter Kontakt – das ist es, was sie an ihrem Job liebt. Keiner muss hier lange auf Kellner und Speisekarte warten, bedient sich mal hier, mal da, sucht einen Platz in der Halle, schlendert durch die Gänge, geht nach draußen oder nimmt die Mahlzeit ungeniert mit nach Hause. „Das ist der Unterschied zum Restaurant, so ist der Zeitgeist heutzutage“, sagt die 39-Jährige. Das Konzept des Ladens ist ebenso zeitgemäß: „Wir wollen nachhaltig arbeiten“, erklärt Wickert. Bedrohte Arten wie Aal landen deshalb bei „Glut & Späne“ nicht im Ofen.
Beim Street Food sei die Eintrittsschwelle niedrig, der Beteiligungsgrad hoch und die Aktualität immens, schrieb die Food-Autorin Ursula Heinzelmann nach einem Besuch der Markthalle Neun. Florian Niedermeier und seinen beiden Partnern hat diese Beschreibung so gut gefallen, dass sie sie für ihre Internetseite übernommen haben. Die drei Betreiber der historischen Markthalle sind manchmal selbst überrascht, was sie da losgetreten haben. „Berlin ist eigentlich nicht als kulinarische Hochburg bekannt“, sagt Niedermeier. Dafür aber als Schmelztiegel: „Die Stadt ist voll mit Leuten, die von überall her kommen und ihre Gerichte mitbringen.“ Kulinarisch heißt das: britische Pies, thailändische Tapioka Dumplings, koreanische Buns oder Allgäuer Kässpätzle, so wie sie etwa Myriam Touka und Florian Rohrmoser in ihrem „Heißen Hobel“-Wohnwagen frisch vor den Augen der Kunden zubereiten.
Das jüngste Gericht: Das gute alte Wurstbrot
Diese Vielfalt auf den Teller zu bringen war schließlich das Konzept des „Street Food Thursday“. Die Umsetzung sprach sich schnell herum. Inzwischen erhalten Niedermeier und seine Partner täglich mehrere Anfragen von Standbetreibern, die dazugehören möchten. Doch die Anforderungen sind hoch. Gute Lebensmittel sollen es sein. Und es muss deutlich werden, dass man sich mit dem, was man anbieten will, auch ehrlich und intensiv auseinandergesetzt hat. Soll heißen: Wer nur den schnellen Euro machen will, ist hier nicht willkommen.
Nach Suppen und veganer Szenekost jetzt also Street Food. Dass sich das Angebot an schnellen, raffinierten Mahlzeiten rasant entwickelt, wird nicht nur in Berlin, wo sich inzwischen auch in anderen Stadtteilen feste Street-Food-Märkte etabliert haben, deutlich. In deutschen Großstädten eröffnen so viele Burger-Läden, die sich von der Masse abheben wollen, dass sie schon selbst zur Masse geworden sind. In München hat es die „Waldmeisterei“ sogar geschafft, dem guten alten Wurstbrot wieder Respekt zu verschaffen. Retro ist chic, aber in Zeiten von Foodselfies bei Facebook und Co. darf der Eventcharakter nicht fehlen. Die Veranstaltungskalender für den Sommer sind voll mit „Street Food-Festivals“ und „Street-Food-Meilen“.
Berlin geht vorneweg. Auch Jürgen Fürgut würde eigentlich gut in die Markthalle Neun passen, aber offenes Feuer ist dort nicht erlaubt. Also steht er mit seiner Grillfischbude da, wo das Street Food dem Namen nach auch herkommt: an der Straße. Der 42-jährige ehemalige Bauleiter für Garten- und Landschaftsbau hat noch mal neu angefangen. Vor sieben Jahren tauschte er Zollstock gegen Grillzange und Schreibtisch gegen Marktstand. Seither tourt der gebürtige Bayer viermal die Woche mit seinem Fischgrill über Berlins Marktplätze.
An diesem Tag hat er auf dem Breslauer Platz in Schöneberg Doraden und Makrelen dabei – und natürlich Forellen, die er direkt aus der Zucht seines Vaters vom heimischen Ammersee bezieht. Die Qualität ist die Basis, den Rest besorgen die Grillkohlen. „Beim Braten wird der G‘schmack verfälscht“, erklärt der 42-Jährige mit ausgeprägtem bayerischem Zungenschlag.
Frisch, leicht, einfach, lecker – man braucht nicht lange, um zu verstehen, warum Fürguts Ein-Mann-Betrieb in einem hippen Stadtmagazin jüngst unter die drei beliebtesten Marktstände Berlins gewählt worden ist. Die Zeitungen berichteten über ihn, und auch der Bayerische Rundfunk war schon da, um die Geschichte des erfolgreichen Freistaat-Sprösslings in der fernen Hauptstadt zu erzählen. Dabei macht Fürgut an seinem Steckerlfisch-Stand nur das, was er eigentlich schon immer machen wollte: seinen Gästen ein einfaches, köstliches Gericht zubereiten, so, wie er es selbst am liebsten mag.
Eine Prise Salz, ein bisschen Pfeffer, und am Ende gibt’s noch einen Schuss Olivenöl über die Makrele. Dazu wird angeröstetes Weißbrot, Meerrettich und ein frischer Kräuterdip gereicht. Weniger ist manchmal mehr, das haben auch Fürguts zahlreiche Stammkunden verstanden – und warten dafür schon mal zehn bis 20 Minuten auf ihren Fisch frisch vom Rost.
Während die ersten Marktbeschicker am späteren Nachmittag bereits wieder ihre Sachen zusammenpacken, lässt der Andrang bei Jürgen Fürgut noch nicht nach. Am Imbissstand daneben warten hingegen die letzten Thüringer Bratwürste des Tages seit geraumer Zeit auf Abnehmer. Ein neidischer Blick des Grillwurstmeisters bleibt da nicht aus. Die neue Leichtigkeit des Street Foods – steht sie für das Ende des Straßenklassikers?
Schnelle Lösung ohne schlechtes Gewissen
„Solange es Männer gibt, wird es Bratwürste geben“, sagt Ernährungsberaterin Susanne Büscher – und macht damit der Vorstellung, dass sich die Deutschen künftig beim schnellen Happen auf der Straße generell gesünder ernähren könnten, den Garaus. Und in der Tat: In den jüngsten Umfragen sind es immer noch Kalorienbomben wie Döner, Burger, Pizza oder Currywurst, die den Geschmacksnerv der Deutschen am besten treffen. Rund 90 Prozent der Bevölkerung greifen mehr oder weniger regelmäßig zu Fast Food. Aber rund ein Viertel plagt dabei das schlechte Gewissen – eine wachsende Gruppe, die sich immer öfter dem hochwertigeren Straßenessen zuwendet.
Auch bei Anne und Leon darf es ab und an die schnelle Lösung sein. Die Freunde sitzen in der Abendsonne auf einem Stromkasten, essen ihr Pulled-Pork-Sandwich und lassen die Beine baumeln. In der Markthalle Neun gleich nebenan ist es inzwischen so voll, dass sie auf die Straße geflüchtet sind. Warum sie herkommen? „Weil es hier den einzigen Barbecue-Smoker in Berlin gibt“, sagt der 30-jährige Berliner. Eigentlich ist er nicht begeistert, wenn in seiner Nachbarschaft alles schicker, zeitgeistiger, touristischer wird. Ein Markthallenmitarbeiter sei gerade ganz erstaunt gewesen, als sie ihm sagten, dass sie Einheimische seien. „Da seid ihr die Ersten heute“, habe er gesagt. So ist das wohl mit den Trends: Wenn sie gut sind, mag sich keiner auf Dauer entziehen.
Stephan Fuhrer (2014) / Fotos: © Georg J. Lopata